Das Frühstück im Resort-Hotel ist Stress pur: Die Auswahl ist riesig, aber der Andrang ebenso. Ich sitze etwa 30 Meter vom Buffet entfernt. So groß das Angebot ist, so mittelmäßig ist die Qualität. In vielen kleinen preiswerten Hotels habe ich besser gegessen – und war vor allem schneller fertig. Dennoch: Nach Unterkünften in kleinen Hotels, einer Kneipe, einer campingähnlichen Anlage und einem Bahnhof habe ich nun auch die Kategorie Luxus-Hotel abgehakt – zum kleinen Preis, aber mit der Erkenntnis, dass es sich nicht lohnt.

Heute geht es mit dem Bus zum Bahnhof, 30 Minuten durch die Vorstädte; im Bus ist erstaunlich wenig Betrieb. Am Bahnhof habe ich Zeit, trinke Kaffee und kaufe mir einen Eisenbahnkalender für 2026 – Vorbereitung der nächsten Reise.
Dann kommt der Zug nach Usuki. Ein Limited Express wie gestern: riesige Fenster, viel Platz, wenige Fahrgäste und eine traumhafte grüne Landschaft. Regen, in Wolken gehüllte Berggipfel, Täler mit wabbernden Nebelschwaden. Bergauf, bergab.

Gegen 13:00 Uhr Ankunft in Usuki, einer unscheinbaren Küstenstadt mit 30.000 Einwohnern. Am Bahnhof empfängt mich ein freundlicher Bahnbeamter, es gibt sogar einen kleinen Stand mit Touristeninformationen, aber hauptsächlich auf Japanisch. Zu Fuß gehe ich durch die Stadt; es herrscht Sonntagsstimmung – obwohl Donnerstag ist.
Mir fällt auf, dass es sehr viele kleine Geschäfte und Lokale gibt, aber sehr wenige Menschen und Autos auf den Straßen.



Meine neue Unterkunft finde ich schnell. Sie liegt im historischen Stadtteil, in dem viele Häuser etwa 200 Jahre alt sind – für japanische Verhältnisse sehr alt. Meine Gastgeberin Ai winkt mir schon zu und bittet mich in ihr Haus. Sie führt einen Laden, in dem sie Kunstgewerbe und importiertes Geschirr verkauft, zum Beispiel Porzellan aus Deutschland und Frankreich. Manches ist neu, anderes wirkt gebraucht. Außerdem bietet sie Taschen und Wollwaren von lokalen Produzenten an. Gastgeberin und Haus nehmen mich sofort für sich ein. Der ganze Ort – genau das, was ich gesucht habe: authentisches Japan ohne Trubel und Touristen.




Meine Wohnung befindet sich über dem Laden und ist über eine Treppe damit verbunden. Es gibt ein Arbeitszimmer, das praktisch über dem Laden schwebt – ich kann über eine Brüstung hinunterschauen und mit Ai sprechen, was wir immer wieder tun. Daran schließt sich das Schlafzimmer an, abgetrennt durch eine typische japanische dünne Schiebetür. Eine eigene Toilette und ein Waschbecken habe ich auch. Das Badezimmer ist unten – und ist High-Tech pur. Mit einem digitalen Bedienpult an der Wand kann man die Wassertemperatur (und wahrscheinlich noch einiges mehr) steuern. Beim Ein- und Ausschalten sowie beim Regulieren der Temperatur spricht die Anlage mit einer sehr hohen, dennoch aparten Frauenstimme zu mir – auf Japanisch. Ich bin hingerissen. Das Bad hat Fußbodenheizung, reinigt sich offenbar selbst und verfügt über eine Lüftungsfunktion, mit der man im Winter Wäsche trocknen kann.



Jetzt kommt der spannende Teil: Ai nimmt mich mit auf eine kurze Tour durchs Viertel und macht mich mit den Nachbarn bekannt – ein alteingesessenes Geschäft, das selbstgemachte getrocknete Miso-Suppen, Sojasoßen, Gewürzsoßen und Zutaten für lokale Gerichte verkauft.
Wir besuchen die kleine Sake-Brauerei, und ich darf in den Keller mit den sehr alten und unbezahlbaren Fässern schauen. Außerdem gehen wir zur Touristeninformation, die für einen so kleinen Ort mit so wenigen Besuchern erstaunlich groß ist. Dort kann man Fahrräder ausleihen – heute jedoch nicht, da die Wetterprognose unsicher sei. Das ist mir recht, denn das trübe Wetter erlaubt mir, in meinem neuen Arbeitszimmer am Tagebuch zu arbeiten. Langsam geht es voran; ich habe die wichtigsten technischen Grundlagen jetzt verstanden und entwickle allmählich eine Routine.
Abends zeigt mir Ai das Lokal ihres Bruders. Sie erzählt mir, dass sie selbstständig ist und mehrere Jobs kombiniert: Sie hat den Laden, sie schreibt – etwa Reiseführer für den Ort und die Region –, sie betreibt einen kleinen Massagesalon (im Laden) und hilft ihrem Bruder während der Lunch- und Dinnerzeiten im Restaurant aus. Dabei liefert sie auch Essen mit dem Motorroller aus. Perfektes Englisch spricht sie, weil sie 20 Jahre in Großbritannien und den USA gelebt und gearbeitet hat – außerdem zwei Jahre in Ungarn. Ich bin sehr beeindruckt.
Da ich Bierdurst habe, mache ich mich auf die Suche nach einer zünftigen Izakaya. An drei Kneipen werde ich abgewiesen (fully booked) und denke, vielleicht wollen sie keine Touristen bedienen. Aber dann finde ich eine ganz unscheinbare Izakaya und werde mit offenen Armen empfangen. Es scheint ein Familienbetrieb zu sein – Mutter, Vater, Tochter –, und ich fühle mich sofort zu Hause. Das Bier wird frisch gezapft in eiskalte Gläser; ich bekomme einen Platz am Tresen und kann aus einer großen Auswahl Fleischspieße auswählen, die sofort am Gasgrill zubereitet werden. Alles lecker. Besonders das Bier.







Etwas später kommen drei junge Kerle, die sich auf die Bodenmatten setzen (Schuhe aus!) und rauchen. Sie sind ziemlich ausgelassen; ich frage sie nach einem Foto, sie freuen sich. Rauchen ist erlaubt, wenn es spezielle Abzugsanlagen gibt. Die hängen hier genau über den Sitzplätzen und verleihen der Izakaya etwas Industriell-Verwegenes. Mir gefällt die Atmosphäre, ich bleibe lange – und verspreche, am kommenden Tag wiederzukommen.
Tageswertung: Authentisches Leben und persönliche Kontakte, genau dass, was ich gesucht habe 10 Punkte
Datum: 13. November 2025 — Ort: Usuki
Arbeitskultur in Japan: Arbeit ist das ganze Leben
Die Arbeitskultur in Japan ist ein faszinierendes Mosaik aus Tradition, Loyalität und einem ausgeprägten Pflichtbewusstsein. Über viele Jahrzehnte hinweg galt es als selbstverständlich, lange im Büro zu bleiben und erst aufzubrechen, wenn der Vorgesetzte gegangen war. Diese Haltung brachte Licht und Schatten hervor: hohe Identifikation mit dem Beruf, ausgeprägten Teamgeist und große Verlässlichkeit – aber auch das Phänomen Karoshi, den Tod durch Überarbeitung, der in Japan vergleichsweise häufig auftritt.
In den vergangenen Jahren hat jedoch ein behutsamer Wandel eingesetzt. Die Regierung versucht, Überstunden zu begrenzen und mit Initiativen wie dem „Premium Friday“ mehr Freizeit zu ermöglichen. Gleichzeitig ist spürbar, dass sich viele Unternehmen geöffnet haben und Work-Life-Balance heute stärker berücksichtigt wird. Die Arbeitsmoral in Japan bleibt hoch, doch das Klima ist in vielen Bereichen entspannter geworden.
Trotzdem prägen einige Grundpfeiler den Arbeitsalltag nach wie vor: klarer Respekt vor Hierarchien und älteren Kollegen, große Pünktlichkeit, ein starkes Wir-Gefühl und eine ausgeprägte Etikette im Umgang miteinander. Geschenke zum Dank oder zur Begrüßung sind ebenso üblich wie ein zurückhaltender, höflicher Kommunikationsstil.
Einige Zahlen verdeutlichen das Bild:
Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen besteht jedoch weiterhin, oft verbunden mit unterschiedlichen Berufszugängen.
Der durchschnittliche Mindestlohn lag 2023 bei rund 1.072 Yen pro Stunde (ca. 6,70 Euro).
Beschäftigte haben Anspruch auf mindestens zehn bezahlte Urlaubstage, die mit der Betriebszugehörigkeit steigen.
Rund ein Viertel der Unternehmen meldet, dass Mitarbeiter bis zu 80 Überstunden im Monat leisten – in Deutschland sind es im Schnitt etwa 12,6.
Zugleich ist die Zahl der jährlichen Arbeitsstunden zuletzt spürbar gesunken; die Atmosphäre in vielen Betrieben hat sich verbessert.
Typisch ist auch die starke Bindung an den eigenen Arbeitgeber. Über Jahrzehnte war es üblich, ein ganzes Berufsleben in derselben Firma zu verbringen – ein Modell, das vor allem in großen Unternehmen noch heute gilt. Etwa ein Drittel der Beschäftigten bleibt langfristig im selben Betrieb.
Quelle (gekürzt): Wayers , 2023
Weitere ausführliche Informationen zum Thema findet ihr bei GO NIHON: 8 Besonderheiten an der japanischen Arbeitskultur
Was mir heute aufgefallen ist
Dass in der Izakaya die personalisierten Sake- Flaschen der Stammkunden stehen. Diese sind mit Namen und manchmal lustigen Sprüchen und Zeichnungen versehen. Grund dafür ist, dass es billiger ist, eine Flasche zu bestellen, als einzelne Gläser. So können die Kunden ihre persönliche Flasche auf mehrere Restaurantbesuche aufteilen. Praktisch und kulant vom Wirt.

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