Am Freitag werde ich sehr früh wach; die dünnen Wände des Hauses und die einfach verglasten Schiebefenster bieten wenig Lärmschutz. Das Haus liegt zwar an einer Fußgängerzone, aber Lieferfahrzeuge und Mopeds fahren ab und zu vorbei.
Ai hat für mich Frühstück zubereitet. In der Mitte ihres Ladenlokals hat sie eine kleine Küche integriert – mit Kühlschrank, einem kleinen Gasherd, Teekessel, Geschirr und Gewürzen. Ich sitze direkt davor an einem Tresen, ähnlich einer Bar. Ai ist der Barkeeper. Sie reicht mir mein köstliches Frühstück: Rührei mit Bambussprossen, Toastbrot, Käse, Salat und Obst. Sie erzählt mir viel über den Ort, und wir tauschen uns auch darüber aus, wie die Sozialsysteme in Japan und Deutschland funktionieren, wie die Bildungssysteme aufgebaut sind, die Migrationspolitik, die Energiewende und vieles mehr. Diese Gespräche sind wirklich interessant, und Ai ist eine angenehme Gesprächspartnerin. Ich habe heute vor, die Stadt zu erkunden, und Ai wird am Vormittag schreiben, bis sie gegen 10 Uhr wieder zu ihrem Bruder ins Restaurant fährt. Ich nehme meinen Schlüssel für den Laden mit, und Ai zeigt mir, wie das Schloss der Eingangstür funktioniert. Das Zylinderschloss hat die Qualität eines sehr billigen Fahrradschlosses; die Tür selbst ist eine dünne und ziemlich wacklige Schiebetür, die zum größten Teil aus Glas besteht. Vor Einbrüchen muss man sich in Japan offensichtlich nicht fürchten. Alle Häuser in der Straße sind sich sehr ähnlich, und die Baumaterialien – dünne Wände, einfache Schiebefenster und Schiebetüren – sind auch bei den meisten neuen Häusern nicht anders. Zum Heizen wird die kleine Klimaanlage genutzt, die in einem Zimmer installiert ist.

Es ist ein angenehm frischer, sonniger Morgen. Ich gehe zum Bahnhof und dann durch normale Wohnviertel. Mir begegnen Menschen, die ihre Hunde ausführen, und ich sehe, wie Obstverkäufer und andere Ladenbesitzer ihre Geschäfte für den Tag vorbereiten. Ich besuche einen Friedhof, die Burg über der Stadt und einen Tempel. In einem Kombini kaufe ich mir Kaffee und ein Sandwich zum Mittag.

Dann gehe ich zur Sake-Brauerei, die mir Ai empfohlen hat. Der Direktor und eine freundliche Mitarbeiterin zeigen mir den Keller mit den unbezahlbaren alten Sake-Fässern, die Brauanlage, und sogar ihr Büro darf ich betreten. Dort hängen überall Fotos einer Katze. Ich erfahre, dass sie so etwas wie eine Mitarbeiterin der Firma war und über die Region hinaus bekannt und beliebt. Leider ist sie im vergangenen Jahr gestorben. Es gibt einen kleinen Schrein in Erinnerung an sie, und überall hängen Fotos von ihr. Zum Abschied bekomme ich zwei Karten mit ihrem Bild geschenkt.







Für eine Sake-Verkostung ist es leider noch zu früh, aber ich werde im kommenden Jahr wiederkommen.
Auch das Geschäft, in dem selbstgemachte Sojasoße verkauft wird, statte ich einen Besuch ab. Neben der Sojasoße ist der Laden für seine handgefertigten Instant-Miso-Suppen bekannt. Davon kaufe ich 30 Beutel – die lassen sich gut nach Hause transportieren. Sie verkaufen dort sogar Miso-Eis.






Was mir auffällt, ist, wie leer die Straßen in diesem Ort sind, besonders hier in der Einkaufsstraße. Es gibt viele schöne kleine Geschäfte, zwei Optiker, einen Uhrenladen, viele sehr individuelle Läden mit Kleidung, Cafés – aber kaum Menschen, weder zu Fuß noch mit dem Rad. Nur Ai braust ab und zu an mir mit ihrem Motorrad vorbei, um Essen auszufahren.

Eine letzte Aufgabe habe ich heute noch: Haare schneiden lassen. Es gibt viele Salons in Usuki, aber man benötigt eine Reservierung, und ich werde mehrfach abgewiesen. Dann sehe ich vor einem Salon zwei junge Männer sitzen – offensichtlich ist gerade keine Kundschaft da. Sie freuen sich, und ich bekomme, für einen auch in Deutschland üblichen Preis, meinen bewährten Standard-Maschinenschnitt. Witzig ist, dass die beiden Jungs gestern in der Izakaya waren, wo ich sie fotografiert hatte – wir kennen uns also schon.

Die Izakaya von gestern ist auch heute mein Abendprogramm. Ich finde sie erst nicht, werde dann aber genauso herzlich wie gestern empfangen und bewirtet. Der Laden ist heute, es ist Freitag, ziemlich voll; es sind auch ältere Gäste da, und alle Plätze auf dem Boden sind besetzt. Ich sitze am Tresen und werde heute von einer Frau bedient, die gut Englisch spricht und zwei Jahre in Berlin gelebt hat. Um 21 Uhr macht die Izakaya dicht – wir sind hier im ländlichen Raum. Zum Abschied bekomme ich ein Glas Sake eingeschenkt, als kleine Kostprobe. Er ist viel besser als erwartet.men drei junge Kerle, die sich auf die Bodenmatten setzen (Schuhe aus!) und rauchen. Sie sind ziemlich ausgelassen; ich frage sie nach einem Foto, sie freuen sich. Rauchen ist erlaubt, wenn es spezielle Abzugsanlagen gibt. Die hängen hier genau über den Sitzplätzen und verleihen der Izakaya etwas Industriell-Verwegenes. Mir gefällt die Atmosphäre, ich bleibe lange – und verspreche, am kommenden Tag wiederzukommen.
Tageswertung: Authentisches Leben und persönliche Kontakte, genau dass, was ich gesucht habe 10 Punkte
Datum: 14. November 2025 — Ort: Usuki
Japans Sozialstaat – kurz erklärt
Japans Gesellschaft wirkt auf den ersten Blick stark kapitalistisch geprägt, zeigt bei näherem Hinsehen aber auch solidarische Elemente. Menschen mit niedrigem Einkommen zahlen kaum Steuern und erhalten zahlreiche Vergünstigungen, während Gutverdienende deutlich stärker belastet werden. Gleichzeitig sind Alters- und Kinderarmut ein ernstes Problem.
Das japanische Sozialsystem ruht auf mehreren Säulen: Sozialhilfe, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung sowie vielfältige Bereiche der sozialen Wohlfahrt, etwa für Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen. Auch Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit, wie Impfprogramme, gehören dazu.
Trotz gewisser Parallelen zu Deutschland sind die Unterschiede erheblich. Die durchschnittliche staatliche Rente liegt in Japan deutlich niedriger: rund 160.000 Yen (etwa 950 Euro) für fest angestellte Beschäftigte, bei Menschen in irregulären Arbeitsverhältnissen sogar nur bei etwa 320 Euro. Unterstützung bei Arbeitslosigkeit wird in Japan maximal sechs Monate lang gezahlt, während Hilfen in Deutschland oft wesentlich länger zur Verfügung stehen.
Das japanische Bildungssystem ist ungleich teurer als in Deutschland. Gleichzeitig gibt es keine staatlichen Förderprogramme wie BAföG. Mietzuschüsse oder Wohngeld sind weitestgehend unbekannt – wer kein Geld hat, lebt in entsprechend ärmlichen Verhältnissen. Die Zuschüsse für Familien mit Kindern (z. B. Kindergeld) sind in Japan kaum nennenswert.
Um die Eigenvorsorge zu stärken, fördert der Staat private Kapitalbildung. Beliebt ist das steuerbegünstigte NISA-Konto, über das viele Japanerinnen und Japaner eigene Rücklagen bilden. Insgesamt zeigt das System eine Mischung aus traditioneller Fürsorge, klaren Grenzen staatlicher Unterstützung und der Erwartung, dass jede und jeder einen Teil der Vorsorge selbst übernimmt.
Quelle (gekürzt) Japan Digest, 2024
Was mir heute aufgefallen ist
In Usaki, wie in vielen anderen Kleinstädten, gibt es keine zentrale Versorgung mit Gas, vielmehr haben fast alle Häuser eigene Gasflaschen vor Ihren Häusern stehen, mit denen Sie sich versorgen.

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